Erst in der vergangenen Woche mahnte die Kanzlerin, dass gerade einmal die erste Phase der Pandemie überstanden sei. Zwar habe sich die Ausbreitung des Virus eindämmen lassen und auch die Lage insgesamt hätte sich stabilisiert. Dennoch seien Umsicht und Disziplin in der Öffentlichkeit unumgänglich, sollen die jüngsten Lockerungen auch weiterhin und nachhaltig Bestand haben. In der Praxis dagegen ist zunehmend zu beobachten, dass die strikten Vorgaben der letzten Wochen zunehmend laxer gehandhabt werden. Die Rede ist hier nicht von organisierten Verschwörungstheoretikern und anderen dubiosen Vereinigungen, die die das Virus und die damit verbundenen Einschränkungen als „Biowaffe gegen die eigenen Grundrechte“ betrachten. Nein, die brüchige Einkaufsdisziplin zeigt sich beim Einkauf um die Ecke. Und in der nicht einheitlichen Auslegung von Hygienestandards einzelner Märkte. Ein persönlicher Rundgang.
Der Wochenendeinkauf als spannendes Unterfangen
Maske eingepackt? Klar! Abstandsregelungen noch einmal vergegenwärtigt. Check! Und los geht´s. Dem spannenden Unterfangen „Wochenendeinkauf“ steht nichts mehr im Wege. Beim Befahren des Parkplatzes des Supermarktes meiner Wahl fällt sofort die Menschenschlange vor den Einkaufswagen auf. Maskentragende Kunden halten Abstand. Zunächst. Die Warteschlange vor den Wagen kollidiert relativ schnell mit den Menschen, die versuchen, mit genügend Abstand aus dem Markt herauszukommen. Ersten Kunden in spe dauert das zu lange. Und schon drängelt die erste Person in Richtung Einkaufswagen. Anderthalb Meter sind da schnell relativ!
Desinfizierte Einkaufswagen sind Glückssache
Während im Getränkemarkt vor ein paar Wochen noch eine abgezählte Anzahl an Einkaufswagen von einem Security-Mitarbeiter unter Aufsicht desinfiziert an den nächsten Kunden zugeteilt wurde, ist an diesem Tage von solchen Maßnahmen nichts zu spüren. Immerhin: Vor dem ALDI-Markt liegen noch ein paar Einmalhandschuhe, die man zum Schieben der Wagen nutzen darf. Verpflichtend ist dieses jedoch nicht. Und da die Handhabung zur Entnahme nicht ganz einfach ist, verzichten viele darauf. Vor dem EDEKA-Markt nebenan fehlen sie gänzlich. Von Desinfektionsmittel ganz zu schweigen. „Aufgrund behördlicher Anordungen ist derzeit nur eine bestimmte Personenzahl gleichzeitig in der Filiale gestattet.“ So oder so ähnlich war es vielerorts in den vergangenen Tagen und Wochen zu lesen. So auch hier. Doch niemand ist da, der diese behördliche Vorgabe kontrolliert und den Einlass regelt.
Ist es Unkenntnis oder Ignoranz?
Diese Frage stellte ich mir beim Einkauf in den verschiedenen Märkten selbst mehr als nur einmal. Zugegeben, sich in den mitunter engen Wegen einiger Märkte mit dem gebotenenen Abstand zu bewegen, verlangt einiges an Navigationsgeschick. Und natürlich muss man auch einmal warten, wenn jemand etwas länger für die Warenauswahl vor dem Regal benötigt und man selbst eigentlich nur kurz einmal zugreifen müsste. Mit welcher Gelassenheit ich aber erlebe, dass einige Menschen – man möchte fast meinen wissentlich – die Abstandsregelungen ignorieren und stumpf an einem vorbeigehen oder auch durch die Gruppe unserer „Kernfamilie“ hindurch, lässt die oben formulierte Frage durchaus berechtigt erscheinen. Mein persönliches Highlight an diesem Tage war der maskenlose, telefonierende Kunde, der für die Dauer seines Gesprächs geschlagene fünf Minuten den Hauptzugang zu den Nudeln blockierte. Ohne Worte! Ein Paradebeispiel für die brüchige Einkaufsdisziplin dieser Tage.
Das arbeitende Marktpersonal allein kann die Einhaltung der Vorgaben nicht kontrollieren
Scheinbar kein singuläres Phänomen, das ich da betrachte. Eine Kassiererin eines kleinen Stuttgarter Supermarktes beispielsweise erklärt, dass sie regelmäßig beobachte, dass Kunden ohne Mundschutz in den Markt kämen. Werden sie daraufhin angesprochen und des Ladens verwiesen, würden sie „draußen weiter Stress machen“. Sicherlich kein Einzelfall, dass Kunden zunehmend gereizt auf die geltenden Vorschriften reagieren. Auch in den Märkten meiner Umgebung kann ich mir das sehr gut vorstellen.
„In anderen Supermärkten fühlt es sich vergleichsweise an wie in einer Parallelwelt“, beschreibt die Stuttgarter Zeitung ihre Eindrücke. Hier überwachen Security-Mitarbeiter den Einlass und die Abstände. Diese können flexibel auf individuelle Situationen reagieren. Eine Aufgabe, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Markt, die dort ihren Tätigkeiten nachgehen, unmöglich in dieser Form erfüllen können.
Verordnungen bieten „Gestaltungsspielraum“
Die Städte verweisen in der Regel auf die Verordnungen der jeweils zuständigen Wirtschafts- und Sozialministerien der Länder. Darin sind unter anderem die Maskenpflicht und das Abstandhalten festgeschrieben. Verpflichtende Security oder Einkaufswagen finden sich hier nicht. Wegen der maximalen Anzahl an Einkaufenden in einem Supermarkt sieht die Verordnung 20 Quadratmeter Verkaufsfläche pro Person vor. Einschließlich der Beschäftigten. Dabei handele es sich aber um eine „Richtgröße“, die wiederum den Märkten im Einzelfall Gestaltungsspielraum bieten.
So oder so! Verordnung hin, Gestaltungsspielraum her. Die brüchige Einkaufsdisziplin hat ihre Ursache vielerorts im mangelnden Gebrauch des gesunden Menschenverstands einzelner Kunden. Das ist zumindest mein Eindruck. Nach zwei Stunden Wochenendeinkauf an einem ganz normalen Samstag in Zeiten der von vielen als immer harmloser wahrgenommenen Pandemie.